16) Ego und Erleuchtung ~ Thesen aus dem MAHA MOKSHA DARSHANA

Das Ego wird von sehr vielen Menschen auf vielfach unterschiedliche Weise beschrieben. In der Lehre des Maha Moksha Darshana sehen wir das Ego als Imititat des Ichs; es ist ein zwei-dimensionales Abbild dieser eigentlich als Ordnungszentrum gedachten Instanz. Das Ich hat die Aufgabe, den Seelensubstanzkörper und damit die psychophysische Inkarnation zu strukturieren, damit das Leben ein voller Ausdruck der ganz Eigenen Note sein kann. Es ist keinesfalls identisch mit dem Ego. Vielmehr ist das Ego ein Schleier der Täuschung, eine Maske, hinter der sich zunächst das Ich, aber auch das Selbst versteckt. Es erzeugt den Anschein von etwas, es gibt ein falsches und unauthentisches Bild. Authentizität oder eine authentische Persönlichkeit („Perle“) ist der Ausdruck eines integrierten Selbst, in dem äußerer Eindruck und Wirklichkeit, Motiv und Handlung eine ungehinderte Bewegung sind. Doch die Fähigkeit, authentisch zu sein, ist etwas, das wir entwickeln und für das wir mit Leidenschaft und Disziplin eintreten müssen.

In dem Maße, in dem wir uns mit dem Ego, seinen Imitaten und seinem Narzissmus identifizieren, finden wir es emotional unerträglich, authentisch zu sein. Zumeist sind wir so daran gewöhnt, nicht authentisch zu sein, dass es uns gar nicht mehr stört. Wir sind gefühllos geworden und haben die Verbindung zu unserer Seele verloren. Dann ist es zunächst wichtig, einen Weg der Heilung zu gehen, auf dem wir das erlösen, was sich in uns gegen das wahre Ich wehrt, und auf dem wir den basalen Ängsten begegnen, die unser Leben in Einschränkung und Unterdrückung halten. Wir brauchen Mut, um uns im Herzen dazu verpflichtet zu fühlen, authentisch zu sein, so dass es uns äußerst unangenehm wäre, wenn jemand merken könnte, dass wir nicht authentisch sind. Wenn wir – von unserem eigenen tiefsten Impuls geleitet – beginnen, das imitierte Ego ab- und aufzulösen [1]In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass man „am Ego“ nicht „arbeiten“ kann, wie es uns von so manchen esoterischen und unreifen Menschen empfohlen wird. Hinter diesem Gedanken steht der Wunsch, die egoischen Vorstellungen des Ichs behalten zu können, wenn sie nur ein wenig „bearbeitet“, das heißt „verbessert“ werden. Aber das Ego wird immer eine falsche Maske bleiben und Masken können weder authentisch sein noch können sie wachsen., tun wir die ersten Schritte auf einem Weg zu einem authentischen Individuum. Dann entwickeln wir eine natürliche Vorliebe für Authentizität und fühlen uns von Transparenz und Integrität angezogen.

Der unbefangene Ausdruck unserer Menschlichkeit

Wenn dieser evolutionäre Impuls, der sich als authentisches Selbst in allen Bereichen unseres Lebens erfahren möchte, zum stärksten Teil von uns wird, ist der unbefangene Ausdruck unserer Menschlichkeit endlich frei von Verstellungen und frei von dem Bedürfnis des Egos, ein unechtes Selbstbild zu schützen. Sobald sich die Energie, die einmal in einem zweidimensionalen Ego zusammengeschrumpft war, in die Dreidimensionalität erhoben hat, kann das Ich als Strukturkomponente dafür sorgen, dass sich unser psychophysisches Hier-Sein in die Ordnung des Ganzen einfügt. Der Seelensubstanzkörper kann in seiner Bestimmung ruhen.

Das Ich wendet sich, nachdem es sich voll entfalten konnte, ganz von allein dem Bewusstseinskörper zu, weil es nun den evolutionären Impuls des Selbst nicht mehr stoppen kann; es ist von der Leidenschaft der Gegenwärtigkeit eingenommen worden. Damit einher geht die Lust an Weisheit; es schwindet das Interesse an Smalltalk, oberflächlichen oder auf emotionalen Impulsen basierenden Beziehungen und Kontakten. Die Erforschung der Tiefe, des Nicht-Seins, des riesigen Raums von Leere, hat eine viel größere Zugkraft. Das Persönliche wirkt dagegen oft wie eine begrenzte Sphäre im Spiel der Welten – oder es wird gerade als Ort der Verwirklichung erkannt, wo der eigene Evolutionsplan seinen Ausdruck findet. Eine Persönlichkeit ohne große egoische Muster nimmt sich in ihrem Einzel-Sein nicht so wichtig und sie hat viel Humor und Bereitwilligkeit zu dienen.

Im Zusammenhang mit der Begrenztheit des Persönlichen erkennen wir unsere Kleinheiten, die auf karmischen Programmen, Glaubenssätzen und Ich-Selbst-Definitionen beruhen. Wir lösen auch diese ab; ein solcher Weg konfrontiert uns mit den faszinierenden und gleichzeitig furchteinflößenden Tiefen des Todes und des Nichts. Doch hier, in der Leere, die frei ist von „Störgeräuschen“, erklingt das authentische Lied des Selbst viel klarer und mächtiger. Wir berühren Shivas Erfahrung von Innerlichkeit – das wahre Ich.

Das wahre Ich ist gleichzeitig ein Sein, das die irdisch-alltägliche Ebene vollständig leben kann – es kann ganz im Hier sein – und ein Nicht-Sein, das aus der Unendlichkeit und Anfangslosigkeit des Einen Bewusstseins [das wir Shiva nennen] gespeist wird. Es ist ebenso unendlich klein wie es unendlich groß ist. Es ist Punkt und Grenzenlosigkeit in einem. Mit dem Ich-Gefühl (im Gegensatz zum egoischen „Ich-Gedanken“) verbunden, vertrauen wir uns unserem Weg immer mehr an; das Eine Bewusstsein nimmt immer mehr Raum ein, weil wir nun das Geschenk des Bewusstseinskörpers – die klare Gegenwärtigkeit, das Jetzt (die vierte Dimension) – zunehmend in unser Leben lassen.

Erleuchtung ist in 98% aller Fälle kein plötzliches, unumkehrbares Ereignis in der Zeit. Sie ist vielmehr ein Prozess, in dem wir uns zunächst vervollständigen und ganz auf der individuellen Ebene ankommen, um uns dann nach und nach von jedem inneren Teil zu lösen, egal wie attraktiv, hilfreich oder bedeutungsvoll er auch sein mag. So wie wir uns in der Meditation von Moment zu Moment von den Inhalten des Bewusstseins lösen, bis Beobachter und Wahrge-nommenes verschmelzen, so trennen wir uns im nächsten Schritt auch wieder davon.

Das Hin und Her von Verschmelzung und Trennung, von Identifikation und Loslassen ist ein wichtiger Schritt im Hineinfließen in den Einheitskörper. Natürlich können wir uns nie aus der Einheit lösen; das wäre völlig unsinnig, denn die Welle bleibt immer im Ozean. Unser Erleben aber ist häufig genug ganz anders. In ihm sind wir nicht nur in Identität mit einer absoluten Einheit, sondern auch identifiziert mit verschiedenen Ebenen der relativen Welt der Polaritäten eben. Alles zusammen macht unser Menschsein aus.

Die Kapazität unseres Hier-und Jetzt-Seins erweitert sich unermesslich, wenn wir zum ersten Mal den Einheitskörper berührt haben. Wir erfahren, dass wir in jedem Augenblick neu geboren werden. Wir erkennen, dass uns die Stufen, die wir bisher zum Tempel der Erleuchtung erklommen haben, zwar geholfen haben, uns auf das vorher Undenkbare einzulassen, indem sie unseren logisch-analytischen Verstand ins Wort genommen und seine Einwände überbrückt haben. Wir sehen ihren Nutzen und wir begreifen, dass wir den Eindruck des Fortkommens, der Entwicklung, gebraucht haben, um an der Bewusstheit festzuhalten. Der ergebnisorientierte Denker in uns hat auf diese Weise mitgearbeitet.

An einer bestimmten Stelle funktioniert aber das lineare Ursache-Wirkung-Prinzip nicht mehr. Es hat im Raum und in der Zeit seinen Platz gehabt, aber wenn Raum und Zeit selbst als nur gesetzte Koordinaten erkannt worden sind, die natürlich in der Erfahrung von Einheit ebenso verschwinden wie eine vermeintlich erlebte Vergangenheit und eine erdachte Zukunft, wird der Geist still [2]Ich habe hier mit Absicht „Geist“ geschrieben. Der Verstand kann nicht still werden, auch wenn er immer im größeren Raum der Stille ruht, so wie alles darin ruht. und fügt sich in Shivas unendliche und ewige Identität ein.

Der menschliche Weg in der Ordnung der Schöpfung

Stufenkonzepte beschreiben eine begrenzte Wirklichkeit. So würdigen sie unsere rationalen Anteile und nehmen sie mit auf die Reise. Tatsächlich ist jeder menschliche Weg in der Ordnung der Schöpfung eine im Individuum erscheinende, fließende Reise Shivas (des Göttlichen), die bestimmte Stationen hat. Schauen wir sie der Übersicht halber noch einmal an:

  1. Kein Ego. Präpersonale, vorbewusste Einheit – unbewusste Leere. Als neu geborenes Kind verlieren wir nacheinander unsere Unendlichkeit und die Ewigkeit und lernen die Konzepte von Raum (Grenzen) und linearer Zeit (Ablauf).
  2. Unbewusstes „Ich“, personales Ego. Familien-, Clan- und Gruppen- Zugehörigkeitsidentifikation. Wir erschaffen eine fixierte, unbewusste, konditionierte Charakterstruktur. Emotionale innere Personas kreieren wechselnde Dominanzsysteme ohne bewusste Führung. Unsere Verletzlichkeit schützen wir durch drei mächtige Haupt-Personas, das sind Soldat (Ich-Abwehr zum Schutz von Grenzen – entsteht in der frühen Kindheit, ist um das 5. Lebensjahr herum abgeschlossen), Leutnant (Über-Ich-Abwehr zum Schutz von Disziplin und Eigenständigkeit – entsteht am Beginn der Pubertät, ist um das 15. Lebensjahr herum abgeschlossen) und General (Ideal-Ich-Abwehr zum Schutz vor Schuld- und Schamgefühlen, entsteht in der späten Pubertät bis 21 Jahren).
  3. Bewusstwerden des Egos und im Idealfall auch der Beginn bewusster Selbstwahr-nehmung. Differenziertere Gefühle und Zugehörigkeiten werden entwickelt. Vielleicht Einstieg in ein Heilungsgeschehen und/oder in Meditation. Vielleicht erster Kontakt mit einem guru. (Phase: „Du bist mein.“) Durch Auflösung emotionaler Personas entsteht Halt. Das bewusstere Ich, vielleicht sogar das wahre Ich wird umarmt. Die authentische Persönlichkeit erschafft sich ein reales Leben. (Seelensubstanzkörper wird erleuchtet; die Perle leuchtet.)
  4. Erste Unterbrechungen des automatischen Denkens im Alltag. Durch Auflösung von Ich-Selbst-Definitionen und Glaubenssystemen erste Schritte in der Nichtidentifikation und Wiedererlangung von Urvertrauen. Erste Wahrnehmungen der inneren Struktur (nicht mehr nur auf Inhalte bezogen). Fokus auf Erkennen und Grenzüberschreitung.
  5. Fokus auf Befreiung, Selbstverwirklichung, Erleuchtung. Übernahme von Verantwortung durch spirituelle Disziplin, sadhana. [Schatten: Abwertung der weltlich orientierten Ausrichtung. Errichtung einer inneren Revolutionsregierung: Befreiung ist das Hauptziel. Hauptstimmen (Erfolg, Macht, Nr. 1 sein) werden kurzfristig verdrängt oder bereits jetzt auf das neue Ziel, ein Niemand zu werden, eingeschworen. Bewusste Ausrichtung auf die Leere, aber zunächst in völlig falschem Verständnis. [3]Alle Schattenphasen können auch schon vorher – von Beginn des Weges an – sichtbar werden.]
  6. Der innere Beobachter erscheint. Tieferes Einlassen auf den guru (Phase: „Ich bin dein.“) Fallen ins Nicht-Ich. Realisierung des anatman, Nichtselbst, des Formlosen. Unpersönliche Erleuchtung. Überwältigende, ekstatische Glückseligkeit. Möglichkeit zur Realisierung des echten Nicht-Seins, bodhi, shunyata. Ende automatischen Denkens. Leben aus der Leere. Natürliches Ende des sadhana. Grundlose Freude. Aufgehen in der leeren Fülle. Bewusstsein über die Bewusstheit der Möglichkeit der Abspaltung emotionaler Personas und mentaler Strukturen in der Dualität. Oft hypnotische Ausstrahlung vor allem durch die Augen („ojas“). [Schatten: Missionarisches Sendungsbewusstsein romantischer oder fanatischer Prägung. Auserwähltsein. Oft eigenständige (!) Gründung einer „Gemeinde von Fans oder Suchern“. Licht- und Highphase.]
  7. Die dunkle Nacht der Seele. Das Grauen. Die unpersönliche Erleuchtung tritt in den Hintergrund, muss durch Praktizieren des alten sadhana wachgehalten werden. (Erleuchtung ist Praxis, Praxis ist Erleuchtung). Alte Gewohnheiten (emotionale Personas, Glaubensstrukturen) können wieder erscheinen. [Schatten: Machtspiele und Hierarchien. Ausstrahlung und Wirkung sind Machtinstrumente. Das Guruspiel wird zur Gurufalle, das heißt, die alten Hauptstimmen übernehmen unter neuer Flagge.] Krise fordert zur Weiterentwicklung auf. (Bewusstseinskörper wird erleuchtet; der Diamant strahlt.)
  8. Bewusster-Ich-Prozess. [4]Dieser Prozess tritt in sehr wenigen, seltenen Fällen tatsächlich ein; er erfordert eine große Leidenschaft für Wahrheit und eine absolut integere Reife. Ein Teil meiner Berufung hat damit zu tun, genau diese Reife in Menschen hervorzurufen. Allmähliches Loslösen aus der vermeintlichen Verschmelzung mit der „Leere“, in der man festsaß. Beginn der Würdigung aller Aspekte des Menschseins. Beginn bewusster Balance zwischen inneren Systemen. Relativierung der spirituellen Anteile bei entspannterer Praxis. Formloses Selbst und Formen der authentischen Persönlichkeit werden gleichzeitig gehalten. Spannungstoleranz wird erweitert durch Ringen mit noch vorhandenen Gegensätzen.
  9. Ich-Bin-Prozess. Beginn integraler Praxis. Noch tieferes Einlassen auf den guru (Phase: „Ich bin du.“) Erste Gleichzeitigkeiten von Persönlichkeit und Shivas Ich. Ein Prozess von „Entleuchtung“ beginnt. Rückkehr zum Einfachen, Gewöhnlichen, aber auf einer neuen Ebene des Erkennens und Lebens. Bewusster Kontakt mit dem innerem Führer/Meister/ guru. Zufriedenheit. Gleichmut. Erlöschen der hypnotischen Ausstrahlung. ICH BIN. Bewusste persönliche Verankerung in der Leere. Leben aus der Tiefenidentität. Nichtduale persönliche Identität mit Form und Formlosem. Ich bin, der ich bin. So-Sein. Vollständiges Leben und Würdigen der Erde und des „kleinen“ Lebens. Volle Erkenntnis der Eigenen Note und des Eigenen Liedes. Einfachheit. Natürliche Würde und Autorität – kein Zeuge, kein Wahrnehmender, eine Welt. Ordnung der Stille. Leere und Fülle, Hier und Jetzt, Raum und Zeit sind Frequenzen der Energie, der dritten großen Dimension, in der alles ruht.
  10. Ich bin DAS. Ich bin. Ich. …

Iti Shivaḥ

Fußnoten

Fußnoten
1 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass man „am Ego“ nicht „arbeiten“ kann, wie es uns von so manchen esoterischen und unreifen Menschen empfohlen wird. Hinter diesem Gedanken steht der Wunsch, die egoischen Vorstellungen des Ichs behalten zu können, wenn sie nur ein wenig „bearbeitet“, das heißt „verbessert“ werden. Aber das Ego wird immer eine falsche Maske bleiben und Masken können weder authentisch sein noch können sie wachsen.
2 Ich habe hier mit Absicht „Geist“ geschrieben. Der Verstand kann nicht still werden, auch wenn er immer im größeren Raum der Stille ruht, so wie alles darin ruht.
3 Alle Schattenphasen können auch schon vorher – von Beginn des Weges an – sichtbar werden.
4 Dieser Prozess tritt in sehr wenigen, seltenen Fällen tatsächlich ein; er erfordert eine große Leidenschaft für Wahrheit und eine absolut integere Reife. Ein Teil meiner Berufung hat damit zu tun, genau diese Reife in Menschen hervorzurufen.