11) SATORI – Die Erfahrung der wahren Natur des SELBST

Der Artikel ist eine kurze Zusammenfassung aus meinem Buch „Der Klang der Leere”. [1]Artikel aus 2010 mit Ergänzungen aus 2021

Das japanische Wort „Satori“ bedeutet „erkennen“ und bezeichnet den – meist nur zeitweisen – Zustand des Einsseins mit dem Absoluten. Es war und ist das Ziel aller spirituellen Traditionen und Praxis, diese Erfahrung des Einsseins mit dem Absoluten zu machen, das Einssein als einzige Wahrheit zu erkennen und in ihm zu verweilen, denn es ist unsere wahre Natur. In unserem SELBST [2]In meiner Arbeit unterscheide ich zwischen selbst, Selbst und SELBST – analog zum Seelensubstanzkörper, der unser strukturierendes Ich enthält und sich selbst innerhalb der Dualität als handelnder Mensch, jīva, erlebt; zum Bewusstseinskörper, der unsere Ursprungs-Seele, puruṣa, enthält und unser umfassendes Selbst darstellt; und zum Einheitskörper, der unsere Absolute Selbst-Seele, ātmā, ist, unser SELBST. Diese Sicht ist relativ neu und wurde von mir erst Ende 2012 formuliert. … mehr, diesem Größeren Sein, lösen sich alle offenen oder verborgenen (scheinbaren) Widersprüche des Lebens auf und der Kreislauf des Leidens wird als das erkannt, was er ist und immer war: eine Illusion, die für real gehalten wurde.

Wahrheit lässt sich nicht mit dem Verstand erforschen. Jedes Wesen stellt irgendwann die Fragen „Wer bin ich?“ – „Woher komme ich?“ – „Wohin gehe ich?“ Diese Fragen richten sich an eine letzte Wahrheit und können nicht durch Nachdenken beantwortet werden. Wahrheit lässt sich aus nichts herleiten und durch nichts (anderes) beweisen, denn sie IST das Absolute, sie ist unsere Heimat. Wahrheit offenbart sich uns, indem wir selbst Wahrheit SIND.

Der Zeitpunkt, zu dem wir uns auf diese Fragen einlassen und aktiv und bewusst die spirituelle Suche beginnen, ist einer der wichtigsten in einem Lebenslauf. Dieser Zeitpunkt markiert meistens einen Punkt der Umkehr, ein kleines Erkennen in einer Zeit, in der wir uns fragen, ob nicht alles, was wir bis dahin in unserem Leben gelernt und getan haben, auf dem Wunsch beruhte, etwas erreichen, etwas vermeiden und/oder etwas unterdrücken oder kontrollieren zu wollen. Er beruht vielleicht auf der Ahnung oder sogar dem Erkennen, dass all unser Tun bis dato unerfüllt blieb und dass die Frustration, vor der wir ausreißen wollten, die Einsamkeit, die wir verhindern wollten, die unangenehmen Emotionen, die wir unterdrücken wollten, sich nicht im geringsten von unseren Bemühungen beeindruckt fanden. Im Gegenteil sind sie oft sogar schlimmer geworden oder haben sich auf andere Ebenen verschoben, die wir dann möglicherweise als „Krankheit“ oder „Störung” erfuhren.

In dem Moment, in dem wir eine solche niederschmetternde Erkenntnis in uns entdecken, sie zulassen und ihre Konsequenzen erfahren, statt sie wie gewohnt von uns fortzuschieben, können wir ihre wahren Früchte ernten: Wir erkennen, dass kein persönliches Tun uns unserem Glück und dem inneren Frieden, den wir suchten, nahebringen konnte. Damit haben wir einen Moment von Offenheit erreicht, der von großer Wichtigkeit ist. Wie wir diesen Moment nutzen, entscheidet über unseren gesamten weiteren Weg.

Wenn wir diese Offenheit nutzen, um unser früheres Weglaufen, Vermeiden und Unterdrücken als Ignoranz zu erkennen, wenn wir all unser mühevolles und aus den Strategien des Verstandes entstandenes, identifiziertes Tun als nutzlos erkennen und uns ansehen, dass es das Motiv dieses Tuns war, etwas zu umgehen, was wir nicht sehen wollten, dann haben wir uns spiritueller Reife angenähert. Spirituelle Reife beginnt, wenn wir die Bereiche in uns eruieren, wo wir arrogant und/oder ignorant vor der letzten Wahrheit – oder manchmal auch einfach nur vor der ersten Wahrheit, der Wahrheit unseres Ich-Erlebens – weggelaufen sind. Spirituelle Reife macht einen weiteren Schritt, wenn wir sogar das unbewusste und bequeme Verhalten einräumen können, mit dem wir unsere Ignoranz unterstützt haben. Solchen Erkenntnissen muss die Frage folgen, ob wir so weiterleben möchten. Wenn uns das, was wir in unserem Leben erreicht haben, nicht glücklich gemacht hat, weil es vielleicht die Bereiche des Herzens und des tieferen Seins gar nicht berührt hatte, dann wird die Antwort auf die Frage „nein“ lauten. Aber wie kann es dann weitergehen? Der nächste Schritt muss ein Bekenntnis enthalten. Er muss beinhalten, dass wir uns selbst das Versprechen geben, uns von Ignoranz und Arroganz abzukehren. Wenn wir das tun, kommt dieser Schritt einer Umkehr gleich, und dann kann es nur eine Richtung geben, die durch diese Umkehr eingeschlagen wird. Das ist die Richtung, die auf Erkennen, auf Satori und schließlich auf Erleuchtung hindeutet.

Spätestens an dieser Stelle taucht die Frage auf: „Wie kann ich denn ein Satori haben?“ Oder, wenn wir uns im „Fachjargon der Erleuchtung“ (noch) nicht auskennen: „Wie kann ich meine Augen öffnen, um Wahrheit zu erkennen und schließlich Wahrheit zu sein?“ Es gibt keine Methode, die Erleuchtung herbeiführt oder es uns ermöglicht, sie zu „erreichen”, denn Erleuchtung ist jenseits eines definierten Ichs, das durch Tun etwas erreichen möchte. Es gibt aber verschiedene Methoden, um den Prozess des Begreifens und damit die Hinwendung zum Erkennen zu unterstützen.

Wir kennen viele Möglichkeiten, das zu verlernen, was wir uns im Laufe von vielen Leben in egoischen Bereichen antrainiert haben. Wenn wir uns von all dem abkehren und gleichzeitig ein reifes Ich mit guten Grenzen entwickeln, werden wir bemerken, dass sich etwas in uns ganz von allein nach der wahren Natur des Selbst und schließlich noch weiter, nach der Natur des SELBST, zu sehnen beginnt. Es ist jederzeit möglich, eine direkte Erfahrung der einzigen Wahrheit das Absoluten (Satori) zu haben. Wir können uns zum Beispiel in ein Satori-Retreat begeben, wo wir durch die Konzentration auf bestimmte Schlüsselfragen, sogenannte Koans, der Frage aller Frage zustreben: „Wer bin ich?“ Wenn wir einmal in einem Wechsel zwischen Kontemplation und Kommunikation und deren lebendiger Verbindung den inneren Raum öffnen konnten, in dem der Koan die dualistische Trennung von Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Absolutem und Relativem auflöst und wir uns für einen Augenblick im Spiegel des anderen selbst erkennen, werden wir nie wieder die Alten sein. Kann sich der illusionäre Knoten des abgespaltenen Egos öffnen, werden sich die andrängenden geistigen und körperlichen Spannungen von selbst in der Wahrheit auflösen.

Die Frage „Wer bin ich?“ ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie ist nach Ramana Maharśi, dem großen indischen Weisen vom Berg Arunācala, die direkteste Methode der Selbstergründung. Im Laufe des Fragens muss der Verstand kapitulieren, denn er findet keine Antwort. Stattdessen weist die Frage direkt zurück auf die Quelle, auf unser wahres Sein. Und indem wir die Wahrheit erkennen, verschwinden sowohl die Frage als auch der Fragende. Diesen Moment des Verschwindens nennt man „Satori“. [3]Zusatz 2021: Ein Satori ist aber nicht das Ende des Weges, sondern es ist die Chance für den Beginn des wahren Weges. Danach fängt die Reise zur Erleuchtung an. Durch das Satori wird angezeigt, dass es die Möglichkeit gibt, die anbrechende spirituelle Reife für eine Entwicklung hin zur Ursprungs-Seele und dann zur Realisierung des SELBST zu nutzen. Es ist aber keine Garantie. Trotz seiner großen Kraft kann das Satori nur auf die Türschwelle verweisen. Wir müssen selbst Verantwortung für … mehr

In formalen Satsangs treffen sich Menschen mit einem selbst-realisierten („erwachten/erleuchteten”) Wesen, einem Lehrer/Meister oder einer Lehrerin/ Meisterin, um durch die Begegnung mit ihrem eigenen Selbst, das im Spiegel der Lehrerin erkannt werden kann, immer tiefer in die Stille des spirituellen Herzens und die Unbegrenztheit der Liebe einzutauchen.

In den von mir angebotenen satsaṅgas und Retreats wird die Chance des Erkennens der wahren Natur des Selbst und des SELBST enorm vergrößert. Doch das letztendliche Erkennen lässt sich nicht erzwingen, sondern ist immer eine Gnade, die nicht vom Alltags-Verstand erklärt werden kann. Die Gnade ist wie das Öffnen einer Tür, zu der wir zwar hingehen können, indem wir uns vertrauensvoll der Existenz hingeben, die aber „von der anderen Seite“ geöffnet wird!

In satsaṅga – das bedeutet immer die Verbundenheit mit dem Sein – gibt sich das Ego dem SELBST hin. Diese Hingabe ist ein unvergleichlicher Akt von Demut. In der Demut verlieren wir die Getrenntheit vom Universum, das Abseitsstehen, das Eingeschlossensein in uns selbst. Wir fallen in die Leere des Absoluten. Dies ist das Ende jeder Illusion. Und damit ist dies der Anfang des wirklichen Lebens.

Voller Freude über jedes Erwachen, jede Vertiefung von Realisierung

und größere Klarheit in der Welt.

Shunyata Mahat

(Iti Śivaḥ)

Fußnoten

Fußnoten
1 Artikel aus 2010 mit Ergänzungen aus 2021
2 In meiner Arbeit unterscheide ich zwischen selbst, Selbst und SELBST – analog zum Seelensubstanzkörper, der unser strukturierendes Ich enthält und sich selbst innerhalb der Dualität als handelnder Mensch, jīva, erlebt; zum Bewusstseinskörper, der unsere Ursprungs-Seele, puruṣa, enthält und unser umfassendes Selbst darstellt; und zum Einheitskörper, der unsere Absolute Selbst-Seele, ātmā, ist, unser SELBST. Diese Sicht ist relativ neu und wurde von mir erst Ende 2012 formuliert. Vergleiche das Buch „maha moksha darshana, erschienen im Raben-Verlag Göttingen im März 2014 (ISBN 978-3-934416-33-8).
3 Zusatz 2021: Ein Satori ist aber nicht das Ende des Weges, sondern es ist die Chance für den Beginn des wahren Weges. Danach fängt die Reise zur Erleuchtung an. Durch das Satori wird angezeigt, dass es die Möglichkeit gibt, die anbrechende spirituelle Reife für eine Entwicklung hin zur Ursprungs-Seele und dann zur Realisierung des SELBST zu nutzen. Es ist aber keine Garantie. Trotz seiner großen Kraft kann das Satori nur auf die Türschwelle verweisen. Wir müssen selbst Verantwortung für unseren Weg übernehmen. Dieser Weg kann sich nach meiner Erfahrung nicht darin erschöpfen, immer wieder Satoris zu haben oder ganztägig die Frage „Wer bin ich?“ zu stellen. Wir haben dieses Leben aus mehreren Gründen gewählt und es wertzuschätzen und ihm seine aus der Ursprungs-Seele gemeinte Bedeutung zuzuerkennen, ist einer der Gründe. Auf dem spirituellen Weg ist dieses Anliegen wichtig, es sei denn, wir wollen uns in eine Höhle zurückziehen und nur noch meditieren. Dann laufen wir allerdings Gefahr, dass wir unseren Seelensubstanzkörper niemals kennenlernen. (Diese Zusammenhänge waren im Februar 2003 in der Ausdehnung noch nicht „spruchreif“ und tauchen daher auch nicht im „Klang der Leere“ auf. Dennoch ist das Buch in dem Aspekt des Weges, den es schildert, lesenswert.)