5) Stille im Zentrum des Rades – Stille auf jedem Weg

Wenn unsere Herzen nur ein einziges Mal die Stille berühren, werden wir den Durst in uns wahrnehmen. Von nun an gibt es kein Zurück mehr, und wir haben die Wahl – die einzige Wahl, die wir in all unseren Inkarnationen haben: Kehren wir dem Durst den Rücken zu und agieren wir ihn unbewusst aus, indem wir uns mit allem betrinken, was kurzfristige Befriedigung verschafft, oder folgen wir dem Durst unseres Herzens und ruhen nicht eher, bis er vollkommen gelöscht ist?

Stille – sie ist nichts, was wir mit dem Verstand greifen können. Sie ist nichts, was wir je wissen können. Sie ist nichts. Wie kann es Wissen geben über etwas, das allem Wissen erst Geburt verleiht?

Am Anfang ist sie wie ein dorniges Samenkorn in unserem Herzen. Sie ist der Same der Leere, der im fruchtbaren Grund ruht und auf das Wasser der Hingabe wartet. Immer dann, wenn wir einen Weg betreten, der ein wahrer Weg ist, werden wir seinen Stachel spüren – unser Herz bewegt sich und wird blutig und wund. Furcht, Kontrolle, Verlangen und Kleingläubigkeit werden an unserem Wegesrand stehen. Hingabe wird sie zu Fall bringen und zerstören. Angst und Zweifel, Abhängigkeit, Bequemlichkeit und die Sucht nach Image werden zu unseren größten Tests. Entschlossenheit wird sie zerplatzen lassen, so dass sie nicht einmal Spuren hinterlassen werden. Gewohnheit und das Bedürfnis nach Sicherheit werden immer wieder ihre Köder auf unseren Weg werfen. Integrität und Klarheit werden dafür sorgen, dass sie uns nichts anhaben können.

So lange werden wir dem Geschmack von Stille folgen, bis Manjuśri, der Herr des Schwertes, all unsere karmischen Fäden durchtrennt hat und sie in den Feuern der Erleuchtung, in den Augen von Śiva, verbrannt sein werden. Dann werden wir nackt sein.

Neue Furcht wird versuchen, uns gefangen zu nehmen, und wir werden Bilder aufsteigen sehen, die eine ruhige Vergangenheit heraufbeschwören. War da nicht schon Stille? Nun kämpfen wir mit unseren Glaubenssätzen. Plötzlich hören wir die leise Stimme unseres gurus im Herzen. Inmitten des Kampfes halten wir an. Wer ist dieses kämpfende „Ich”? Es ist nichts als die schäumende Krone einer sich überschlagenden Welle, die versucht, den Ozean zu besiegen.

Wir werden tosend lachen und schließlich still werden. Und dann werden wir das sanfte Wachsen der Liebe spüren. Wir werden uns des Samens in unserem Herzen gewahr, der sich ausbreitet und strahlt, der alles verzehrt und dennoch völlig reglos ist. Stille – sie ist nichts, was wir mit dem Verstand greifen können. Sie ist der guru, die Lehrerin, der Meister. Sie ist das Selbst, ist Alles.

Was hindert uns daran, das leuchtende, stille, heile Selbst zu erkennen?

Das, was uns daran hindert, das leuchtende, stille, heile Selbst zu erkennen und zu realisieren, ist die Blindheit der Augen, die nach außen in die Welt der Objekte gerichtet sind, um in immer neuen Erdenwegen nach jener Liebe zu suchen, die wir selbst schon sind. Auf diesem Weg des Weglaufens erschaffen wir so viele Knoten und Lügen, dass wir uns irgendwann darin verstricken und zu Fall kommen. Das geht so weit, dass wir zum Fall werden, zum Krankheitsfall. Jede Krankheit auf diesem Weg des Wegrennens ist auf einer Ebene ein Symptom des karmischen Schwungs, den wir durch die Bewegung unseres Verstandes selbst erzeugt haben. Auf einer anderen Ebene ist sie ein Geist, ein Spirit, der zu uns spricht, denn in ihrem Spirit ist das Gedächtnis enthalten, das aufgezeichnet hat, wie wir uns Selbst vergessen oder verlassen haben. Ich hatte das Fahrzeug, das meinen Geist abbildet und das ich den Körper nannte, früher durch viele Behandlungen funktionstüchtig gehalten und hatte die Absicht, es sehr alt werden zu lassen. Wie einige andere ging ich nicht davon aus, dass ich den Körper ohne Ende operieren und chemisch bombardieren könnte, um seine Haltbarkeit zu erhöhen. Ich pflegte und ernährte ihn gut. All das waren wichtige Aspekte, mit denen ich mich auseinanderzusetzen hatte. Die Seneca sagen: „Achte das Pferd, das dich trägt.“ Aber ich war vor meinem Erwachen immer ein Fall geblieben, wie viele der Gesetze meiner Vorfahren ich auch angewandt hatte, denn so sehr ich mich auch in der alternativen Szene des gesundheitlichen und sogenannten esoterischen Lebens ausgekannt hatte, nie hatte ich die Grenze der Person überschritten, die ich zu sein geglaubt hatte. Stattdessen hatte ich versucht, sie auszudehnen. Statt aus der Illusion zu erwachen, hatte ich versucht, einen Sinn in ihr zu entdecken.

Durch die Treue zum Selbst und die tiefen Erkenntnisse, die ich vor allem meinen geliebten LehrerInnen verdanke, musste und durfte ich erkennen, dass wir unserem Körper so viel Gutes angedeihen lassen können, wie wir vermögen, und doch können wir durch diese Befriedigung allein nie glücklich sein. Der Ort, an dem das Glück wohnt, ist in diesem Körper nicht zu finden, auch wenn wir diesen Ort mit dem Herzen assoziieren. Unser wahres Herz ist das Selbst. Wir müssen es nicht erreichen, genauso wenig können wir je aus ihm fallen. Es gibt nichts, das wir tun können, um es „besser” oder „gesünder” zu machen. Nur eins gibt es, das jedes Wesen tun muss, um zu erkennen, dass es bereits dieses Selbst ist: anhalten und still sein.

Heilung ist Rückkehr zu dem Ort im Innern aller Erscheinungen, ist Transzendenz dieser Erscheinungen und die Erkenntnis des wirklichen Leuchtens aus dem leeren Herzen der Welt. Die völlige Verwirklichung des wahren Selbst löscht mit einem Schlag alles karma aus. Wenn wir dem lauschen, was so offensichtlich ist, wenn wir uns selbst zuhören (denn wir sind es ja, die Symptome erschaffen, um sie in die – manchmal physische – Spürbarkeit zu bringen), vielleicht können wir dann unter all den Schichten von physischen, emotionalen und mentalen Gedanken das wiederfinden, was nie verloren war. Also folgen wir dem Ruf unseres Herzens, der mit dem Wind der Freiheit zu uns herüber weht! Lassen wir uns nehmen. Denn nicht dieses „Ich” ist es, das eine Aufgabe hat, auch das habe ich gelernt. Doch das „Ich” kann sich hingeben, kann seine Kontrolle aufgeben, sein Bedürfnis zu wissen und zu handeln, und dann wird es ganz natürlich von der Liebe, von der Existenz benutzt, um allen Wesen zu dienen. Das ist die wahre Bedeutung von „Aufgabe”: dass wir aufgeben, uns ergeben, uns hingeben, uns zur Verfügung stellen für DAS, was durch uns hindurch wirken möchte. Eine größere Lehre des Heilens gibt es nicht.

Wir erscheinen in dieser physischen Form, so dass wir den karmischen Schwung erkennen können, mit dem wir angetreten sind, und reinigen und löschen können, was wir einst in Abkehr und Unwissenheit erschufen. Aber wenn wir uns mit dieser physischen Form identifizieren und an ihr haften, dann treiben wir den karmischen Schwung nur weiter voran, und wir selbst bohren uns tiefer in die Spinnenweben des Vergessens. Welche Befreiung aber erwartet uns, wenn wir die einzige Last von uns werfen, die wir je trugen: den „Ich”- Gedanken! Finden wir, was wir wirklich sind! Lauschen wir dem Sein; damit wird Heilung zu Erlösung, zu Einweihung.

[Die Stille, von der ich sprach und die wir nur im Selbst finden können, zieht sich als wesentlicher Inhalt auf der ‚inneren Ebene’ durch das ganze Buch. Es ist die Stille des Zentrums, das wir überall setzen können und das immer unbegrenzt ist. Auf der ‚äußeren Ebene’ wird das Buch strukturiert durch das Mandala, das als Medizinrad, dharma-Rad, Rad der Lehre und so weiter bekannt geworden ist. Wenn wir die Worte und vor allem DAS, was zwischen den Worten durchscheint, tief in unserem Herzen aufnehmen, entdecken wir die Stille auch hier – sie wird auch auf der ‚äußeren Ebene’ sichtbar.]

Immer hat das Rad Richtungen, die im Prinzip mit Wegen oder Pfaden der individuellen Naturseele und des Lichtgeistes korrelieren, und die alle auf mysteriöse und doch so deutliche Weise zur Großen Seele hinführen, weil sie alle aus ihr stammen. Es ist wichtig, dass die Richtungen nicht im geographischen, sondern im mystischen Sinn zu verstehen sind. Das heißt, dass sie eine symbolische, spirituelle und mythologische Bedeutung haben, keine buchstäbliche oder materielle. Gleichzeitig geben sie Hinweise auf Ebenen, auf denen sich das Unbekannte in verkleideter Form ausdrückt. In geistesorientierten Lehren wie dem herkömmlichen Buddhismus, dem Zen und vor allem dem advaita vedānta aus dem spirituellen Raum des Ostens wird die Landkarte des Rades fast ausschließlich als Mittel benutzt, um die Welt so schnell wie möglich zu überwinden – dort  wird auf die Dynamik der Seele nicht viel Wert gelegt, denn sie erscheint nach diesen Lehren nur im Raum von Leiden. Insofern existiert hier kaum ein tiefes Verständnis für ihre Dynamiken und Mythen. Allein das Brahman oder die Leerheit werden als erstrebenswert bezeichnet.

In den schamanischen Lehren der Ureinwohner Sibiriens, Tibets, Nepals, Indiens, Amerikas und des keltischen Volkes wird häufig auf den Großen Geist und die Stille dahinter als die Quelle allen Lebens nur hingewiesen. Die schamanische Arbeit jedoch bezieht sich auf all jene Reiche, die zwar im Nicht-Alltäglichen angesiedelt sind, aber genau wie alle Objekte des Tonals [1]Das Tonal ist nach dem toltekischen Schamanismus die Welt der Erscheinungen, wie sie sich aus dem Nagual, der Traumzeit, offenbart hat. zur Welt der Erscheinungen gehören. Es existiert jedoch eine basale Unkenntnis über die letzte Essenz der Seele. Im Neo-Schamanismus, wie er heutzutage gern in diversen schamanischen Seminaren angeboten wird, wirkt sich diese Unkenntnis besonders fatal aus. Häufig werden darin Phantasiereisen, die in psychologischer Hinsicht hilfreich sein könnten, jedoch oft aus dem Bereich des Ego und der Emotionen stammen, mit schamanischen Visionen verwechselt. Aber selbst in wahrhaftigem Schamanisieren ist es nur die halbe Wahrheit, wenn wir uns nur auf die Kraft des Selbst – die śakti – beziehen. ……

In diesem Buch wird die Tiefe und Stille der geistigen Lehrwege, ihre Schönheit, die in ihrer vollendeten Klarheit und Leerheit liegt, mit der Fülle und Dynamik verbunden, die in den nicht-alltäglichen Bereichen unseres Lebens erscheint. Wir können dabei erkennen, dass wir Themen, die der Dynamik unserer Naturseele entspringen, nicht als Hindernisse für unsere Verwirklichung zu betrachten brauchen. Wenn wir sie erforschen und uns den Zugang zu ihrer vollen Erfahrung erlauben, wird unser Wachstum stimuliert und die Bereitwilligkeit zu wahrer Hingabe gefördert. Dabei geht es jedoch in erster Linie nicht um psychologische Fragen, Ängste und Hoffnungen, sondern vor allem um jene Bereiche, die hinter diesen oft mentalen Konstrukten in der Wirklichkeit unseres geheimnisvollen Seelenraums leben.

Jede Bewegung unserer Seele kann unsere Achtsamkeit schulen und ist in diesem Sinn kein Hindernis vor der Erleuchtung, sondern im Gegenteil ein Tor zu tieferem Erleben und Gewahrsein. Jeder Pfad, der ein Pfad von Kraft und Liebe ist, hilft uns dabei, aus der Verstrickung zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Innen und Außen, zwischen Wollen und Sollen herauszufinden. Indem wir den Seelenraum in unserem geheimen Zentrum bewohnen und verwirklichen, welche Versprechen er birgt, berühren wir die stille Wahrheit der Liebe und Weisheit, die Perle unseres Herzens. In jeder Berührung der letzten Stille finden wir einen Hinweis auf die ewige Präsenz des Selbst in allem Leben.

Das Medizinrad als Symbol der kosmischen Prinzipien

Das Modell der kosmischen Prinzipien, die Landkarte, die uns hier als Hilfsmittel dient, damit wir uns mit den Kräften des Lebens vertraut machen, darüber uns selbst kennenlernen und schließlich uns Selbst erkennen können, wird bei manchen indigenen Völkern „Medizinrad” genannt. Für den indigenen Menschen impliziert der Begriff „Medizin” das Wissen und die Kraft, die jeder Lebensform zum Gewahrsein von Ausgewogenheit und Harmonie verhilft. Andere Kulturen, zum Beispiel die des Buddhismus oder des Hinduismus, nennen das Rad „maṇḍala [2]Ein maṇḍala (Sanskrit) bezeichnet gewöhnlich die heilige Umgebung, den Bereich eines Buddhas, eines Bodhisattvas oder einer Gottheit, wie sie von einem Praktizierenden des reinen Tantra visualisiert wird. Nach Panchen Ötrul Rinpoche ist das maṇḍala der Sitz der Gottheiten, welche die Initiation vollziehen. Es ist der eigentliche Ort, an dem die Kālacakra-Initiation des Buddha Śakyamuni stattfindet. In einem anderen Zusammenhang ist ein maṇḍala die Ausstrahlung eines gurus, sein … mehr, wieder andere „Rad des dharma” [3]Unter dharma (Sanskrit) verstehen wir die Ordnung, das Gesetz, das Gebot Gottes oder die Wahrheit eines Buddhas. Es bedeutet auch unseren Lebensauftrag, unsere selbstgesetzte Schöpfung, der wir folgen wollten.. Es repräsentiert das vollkommene Gleichgewicht von Energie und Form. Insofern ist es ein Rad des Lebens, ein Kreis, der uns hilft, das Leben in all seinen Aspekten zu betrachten, zu begreifen und schließlich als DAS zu erkennen, was nicht getrennt ist von der Großen Stille. Wir können erkennen, dass LEBEN selbst Stille IST, auch wenn wir es als Prozess erfahren, der die ewige Bewegung der śakti reflektiert.

Das Rad der Lehre als Symbol aller existierenden Lebenszyklen zeigt uns Menschen, wenn wir uns als Lehrlinge des wahren Lebens ansehen, einen Weg auf, den Wert eines jeden Schrittes unserer Entwicklung zu sehen, und wir erhalten ein neues Verständnis für unsere Wachstumsmuster. Doch nicht nur die Muster unseres Charakters, unseres karmas, werden hier deutlich. Auch die tieferen Aspekte, Frequenzen unseres subtilen (feinen) und „sehr subtilen” Körpers, des wahren Herzens, die sich erst mit der Vertiefung in einen wirklich spirituellen Weg enthüllen, können wir hier finden – und diese sind es auch, um die es in diesem Buch vornehmlich geht. Wenn wir bei den alltäglichen oder psychologischen Aspekten verweilen, können wir niemals das Leid überwinden, das die Unbewusstheit unseres Verhaltens immer wieder erschafft, und wir können niemals die Freude empfinden, die sich uns erschließt, wenn wir das Leben durch das Fenster unseres Herzens betrachten und es schließlich durch die Türen der erleuchteten Erkenntnis betreten.

Das Medizinrad-mandala hat in meiner Vision [4]Meine Vision gleicht derjenigen meiner indigenen Vorfahren, der Navaho, auch „Diné” oder „wahre Menschen”, wie sie sich selbst nennen. Auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es verschiedene Variationen des Medizinrades; sie gleichen sich in der Form und der Anzahl der Wege, aber manche Beschreibungen kennen vier, andere acht und einige sogar zwölf Wege innerhalb des horizontalen Kreises. Im buddhistischen Raum finden wir im Rad der Lehre grundsätzlich acht Richtungen. Dort werden … mehr zwei Ebenen. Wir können darin zum einen die horizontale Ebene unserer sogenannten alltäglichen Wirklichkeit erkennen, in der jene Erlebnisse sich ausdrücken, die wir durch die Körper der materiellen, emotionalen, mentalen und spirituellen/ visionären Ebene treffen. Diese vier Körper oder – wie die indischen vedas sie bezeichnen – diese vier Hüllen entsprechen den vier großen Himmelsrichtungen Osten, Süden, Westen und Norden. Auf der psychologischen Ebene entsprechen sie den vier Elementen unseres Erlebens: Körperempfindungen, Emotionen/Gefühle, mentale Gedanken und spirituelle Visionen (die sich im imitierten Ausdruck als Bilder zeigen).

Übergänge zwischen den Ebenen werden durch die vier Winde symbolisiert und markieren die Richtungen Nordost, Südost, Südwest, und Nordwest. Auch diese „Übergangsrichtungen” sind sehr wichtig; sie erhalten in manchen Kulturen nicht so viel Beachtung. Jedoch im buddhistischen Rad der Lehre sind sie Große Wege. Sie werden in diesem Buch auch, aber nur in untergeordneter Weise behandelt, weil sie eher als Vermischungen unserer Erlebenselemente zu verstehen sind.

Auf den Wegen treffen wir Farben, Tiere, psychologische Lektionen, Energien von Orten und Zeiten – und sie alle sind hilfreich, wenn wir unsere tieferen Motivationen erforschen möchten. Im buddhistischen Rad des dharma, das auch als achtgliedriger Pfad bezeichnet wird, werden gewisse Verhaltensanweisungen [5]nämlich rechte Ansicht, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Wachsamkeit und rechte Sammlung zur Aufhebung des Leids angegeben, die jedoch je nach Geistesrichtung innerhalb der buddhistischen Lehren unterschiedlich ausgelegt werden.

Immer wieder habe ich von „Krafttieren”, „Göttern” und Bodhisattvas gesprochen. Während die Tiere uns kraftvolle Aspekte unserer Energie und unseres gereinigten Charakters zeigen können, weisen uns die „Götter” (vornehmlich des Hinduismus, aber auch jene der keltischen Traditionen) auf die erleuchteten Aspekte unserer Naturseele hin. Die Bodhisattvas, die vor allem im tantrischen Buddhismus auftauchen, weisen uns auf den erleuchteten Aspekt unseres Geistes hin.

Die Richtungen des Medizinrades

Die Richtungen des Medizinrades symbolisieren hier auf der horizontalen Ebene alle Erfahrungen, die uns begegnen, sowohl die Tiefen des Glücks und der Gewissheit, als auch die Elemente unseres menschlichen Erlebens, in denen sich alle Arten von Anhaftungen und Verstrickungen finden können, die uns und anderen Leiden verursachen. Anhaftungen und Verstrickungen sind aber gleichzeitig auch wieder Türen zu tieferen Wirklichkeiten, Fahrstühle in die Vertikale, wo die drei Heiligen Richtungen unsere spirituelle Integrität markieren. Wenn wir allein das Offensichtliche um uns herum bemerken und uns fragen, wie unsere innere Antwort darauf aussieht und was unsere Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken und Bilder bedeuten, beginnen wir schon die Suche. Menschen aller Kulturen begaben und begeben sich, wenn sie die Sehnsucht des Herzens und einen spirituellen Ruf in ihrem Leben spüren, auf ihren Weg, indem sie Assoziationen zu den vier Elementen Feuer, Erde, Luft, Wasser, den vier Himmelsrichtungen, den vier Winden oder den Richtungen des Medizinrades herstell(t)en. Manche benutzen dazu Totemtiere, wie die indigenen Menschen des amerikanischen Kontinents; und indem sie die Lektionen von Adler, Koyote, Bär und Büffel begreifen, erleben sie diese Tiere als Helfer auf ihrem Weg zur Erkenntnis. Träume sind weitere Helfer auf dem Weg in die Mitte des Rades, andere sind Steine, Pflanzen, mystische Visionen, das Singen von heiligen Liedern; in den Traditionen der buddhistisch orientierten Völker sind es verschiedene Bodhisattvas oder transzendente Buddhas, bei den Hindus sind es Götter und in China spricht man von einzelnen Familienmitgliedern.

Während wir durch die Räume unseres Gewahrseins schreiten, die wir zunächst für äußere Orte einer von uns getrennten Wirklichkeit halten, machen wir unsere Erfahrungen. Es ist wichtig zu sehen, dass es keine besseren oder schlechteren Erfahrungen gibt – und keine besseren oder schlechteren spirituellen Wesen, die diese Erfahrungen machen. Jede Seele strebt von der Schöpfungsquelle fort und indem wir alle durch den menschlichen Geburtsprozess gehen, betreten wir die Straße des Vergessens. Während wir durch unsere Erdenleben wandern, erinnern wir uns der uns eingeborenen Weisheit und greifen dabei auf unsere physischen und feinstofflichen Körper zurück.

Die wahre Straße ist immer überall, so wie eine Landkarte immer alle Straßen gleichzeitig zeigt. Auch unsere Wanderung findet immer auf allen Straßen gleichzeitig statt; nur der guru im Zentrum, das Selbst, die Lehrerin, weiß, wo wir – bezogen auf unser ursprüngliches Anliegen, die Realisierung oder Erleuchtung – tatsächlich stehen. Vom „Standort” der Radnabe können wir die Richtungen auf der Horizontalen des maṇḍalas als Meilensteine erkennen, die unsere spirituellen Herausforderungen darstellen.

Auf dem Weg des Ostens fangen wir an zu erkennen, dass es für unser Leben einen Sinn, einen Zweck geben muss. Wir werden plötzlich einer Klarheit gewahr, die uns jenseits unserer früheren egoistischen Haltung von „was bringt das Leben mir?” trägt. Wir befinden uns in einer wichtigen Entscheidungssituation in unserem Leben, in der wir damit konfrontiert sind zu erkennen, was wir wirklich wollen.

Auf dem Weg des Südens lernen wir unter dieser neuen Orientierung, kindischen und unserer persönlichen Fixierung angehörenden emotionalen und Verhaltensmustern ins Auge zu sehen und die Geschichten der Vergangenheit, in denen wir verletzt wurden oder verletzt haben, zu transzendieren.

Der Weg des Westens bringt uns zu Innenschau und Einsicht in unsere vergangenen Lebensmuster, lässt uns erkennen, wie tief wir als körperlich begrenzte Wesen identifiziert sind und bringt uns in Kontakt mit Gefühlen und Konzepten über unseren Selbstwert. Hier begegnen wir dem Tod.

Im Norden schließlich ernten wir die Früchte der Stationen, die wir durchlaufen haben, und wir sind dann in der Lage, sie mit anderen zu teilen. Als Lehrer*innen müssen wir hier begreifen, wie wir urteilsfrei, mitfühlend und mit offenen Herzen auch jenen begegnen, die uns in unbewusster Verzweiflung mit Bildern ihrer inneren Dämonen besetzen. Dies ist der erste Schritt hinter den Rauch des Spiegels.

Als nächstes reisen wir durch die Winde; wir betreten die geheimnisvollen Seelenräume, die uns tiefer in unsere innere Dynamik führen. Dabei lernen wir die symbolischen Richtungen des Nord-Ostens, Süd-Ostens, Süd-Westens und Nord-Westens kennen, um uns schließlich zurück in den Kreis zu bewegen oder in die Radnabe im Zentrum zu fallen.

Wenn wir von hier aus oder durch das Goldene Tor des Ostens treten, um die Blaue Straße des Geistes zu gehen, werden wir uns aufrichten und auf dem Weg des Himmels (Oben) den unsichtbaren Welten der spirituellen Wesen entgegenfliegen. Wir werden mit Reichen jenseits der gefestigten Grenzen unseres Alltagsverstandes konfrontiert, mit der Angst vor dem Unbekannten und den unberührbaren Kräften im Universum.

Die zehnte „Richtung”, die Rückkehr zum irdischen Menschsein (Unten), verlangt von uns, dass wir lernen, die unsichtbaren Kräfte in der alltäglichen Wirklichkeit aufzuspüren und zu erkennen. Hier realisieren wir die Verbindungen zum Geist in allen Formen, sehen das Sein der Existenz in Allem Leben.

Hier hebt sich also der letzte Schleier. Doch im letzten Schritt, wenn wir den Samen-Punkt der Mitte berühren und in den ewigen Raum zeitloser Stille eintreten, erkennen wir, dass Sein kein Aspekt ist. Dies ist der „Platz” völligen spirituellen Gewahrseins, ohne jegliche Trennung, ohne Urteil und ohne jegliche Spur von persönlichem Ich. Hier ist die Sphäre von prajñā [6]Skt.: „bewusste Weisheit“; gemeint ist der Kausalkörper, der dem Zustand des unterschiedslosen Tiefschlafs, in dem das Selbst nur sich selbst wahrnimmt, zugeordnet ist., der endlosen Weisheit des unterschiedslosen Gewahrseins, des ewigen Gegenwärtigseins ohne Regung.

All diese „Richtungen” sind nur durch eine Art alchemistische Trennung separat zu erfahren – und für viele Zwecke ist diese separatio ein wichtiger Helfer: Wir lernen, jedes Element unserer Erfahrungen wirklich zu begreifen. Indem wir auf der horizontalen Ebene die Vision (das Bild), den Gedanken, das Gefühl und die Empfindung des Körpers voneinander trennen, können wir uns jedem Element einzeln zuwenden und dadurch eine Reinigung vornehmen, die weitaus tiefer geht, als wenn die Elemente in nicht erkennbarer Weise vermischt wären.

Das maṇḍala des Selbst ist also lediglich als Landkarte zu verstehen, als eine Art Auffaltung unseres Wesens, das natürlich vereint in uns lebt. Es jedoch in der Tiefe zu begreifen, ist das Ziel der alchemistischen Trennung, die nach einer Phase der Reinigung schließlich zur Wiedervereinigung auf einer „höheren Ebene” führt. [7]Der Text dieses Artikels ist eine Zusammenstellung aus dem Buch „Das Mandala der Stille“. Zum Zwecke der flüssigen Lesbarkeit wurde er an einigen Stellen korrigiert und in der Mitte mit einem Kommentar versehen. Der Kommentar wurde in eckige Klammern gesetzt. Der restliche Text entspricht dem Buch.

DER GROSSE ORT

Der Große Ort hat keinen Boden ~

nirgends wird Erde sein, keine Stütze, kein Griff.

Der Große Ort hat keinen Namen ~

doch unsere Seelen flüstern ihn,

während wir stehen als Eins.

Der Große Ort hat keine Form ~

Dein Unselbst verlassend

verblasst dir Gestalt.

Er ist Hier, er ist DU-ICH,

das Eine Ich, das Wir SIND.

Ein Schritt geht schon zu weit,

denn der Große Weg hat kein Ziel.

Der Große Ort spricht im Schweigen des Geistes,

sanft und zart wie eine Antwort im Herzen,

lippenlos, wortlos, ein ewiger Schwur.

Den Großen Ort kennt nur die Liebe.

Verrate ihn nicht,

betrüge ihn nicht,

benenne ihn nicht,

fülle ihn nicht –

er ist leer.” [8]Das Buch „Das Mandala der Stille“ (ISBN 3-934416-13-6) kann über www.raben-verlag-göttingen.de oder über jede Buchhandlung bestellt werden. An Privatbesteller*innen liefert der Verlag versandkostenfrei.

Shunyata Mahat

(Iti Śivaḥ)

Fußnoten

Fußnoten
1 Das Tonal ist nach dem toltekischen Schamanismus die Welt der Erscheinungen, wie sie sich aus dem Nagual, der Traumzeit, offenbart hat.
2 Ein maṇḍala (Sanskrit) bezeichnet gewöhnlich die heilige Umgebung, den Bereich eines Buddhas, eines Bodhisattvas oder einer Gottheit, wie sie von einem Praktizierenden des reinen Tantra visualisiert wird. Nach Panchen Ötrul Rinpoche ist das maṇḍala der Sitz der Gottheiten, welche die Initiation vollziehen. Es ist der eigentliche Ort, an dem die Kālacakra-Initiation des Buddha Śakyamuni stattfindet. In einem anderen Zusammenhang ist ein maṇḍala die Ausstrahlung eines gurus, sein Feld, in dem er seinen saṅga, seine spirituelle Gemeinschaft, versammelt.
3 Unter dharma (Sanskrit) verstehen wir die Ordnung, das Gesetz, das Gebot Gottes oder die Wahrheit eines Buddhas. Es bedeutet auch unseren Lebensauftrag, unsere selbstgesetzte Schöpfung, der wir folgen wollten.
4 Meine Vision gleicht derjenigen meiner indigenen Vorfahren, der Navaho, auch „Diné” oder „wahre Menschen”, wie sie sich selbst nennen. Auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es verschiedene Variationen des Medizinrades; sie gleichen sich in der Form und der Anzahl der Wege, aber manche Beschreibungen kennen vier, andere acht und einige sogar zwölf Wege innerhalb des horizontalen Kreises. Im buddhistischen Raum finden wir im Rad der Lehre grundsätzlich acht Richtungen. Dort werden die acht Wege des Erlebens aller fühlenden Wesen, die acht Ängste oder Gefahren auf all diesen Wegen, und – auf einer höheren Ebene – die Lehren Buddhas gezählt. Nicht alle Räder gehen von einer Vertikalen aus, die ich aber ungemein wichtig finde. Sonst findet man Variationen in Farbe, Fragestellungen und  ähnlichem.
5 nämlich rechte Ansicht, rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechte Wachsamkeit und rechte Sammlung
6 Skt.: „bewusste Weisheit“; gemeint ist der Kausalkörper, der dem Zustand des unterschiedslosen Tiefschlafs, in dem das Selbst nur sich selbst wahrnimmt, zugeordnet ist.
7 Der Text dieses Artikels ist eine Zusammenstellung aus dem Buch „Das Mandala der Stille“. Zum Zwecke der flüssigen Lesbarkeit wurde er an einigen Stellen korrigiert und in der Mitte mit einem Kommentar versehen. Der Kommentar wurde in eckige Klammern gesetzt. Der restliche Text entspricht dem Buch.
8 Das Buch „Das Mandala der Stille“ (ISBN 3-934416-13-6) kann über www.raben-verlag-göttingen.de oder über jede Buchhandlung bestellt werden. An Privatbesteller*innen liefert der Verlag versandkostenfrei.